Karin hat ganz gut geschlafen, Alexander leider nicht so sehr. Die Matratzen sind wirklich sehr, sehr weich und das Glockenspiel bimmelt alle 15 Minuten. Das ist schon recht oft… Das Wetter ist auch nicht so berauschend, sodass wir den geplanten Morgenlauf gegen einen Morgenspaziergang zum Spar um ein Frühstück tauschen. Frisches Joghurt mit Beeren und Croissants munden uns wunderbar zu English Breakfast Tea mit Milch.
Um 9:00 kommt pünktlich die junge Dame von der Apartmentvermietung und nimmt unsere Kreditkartenzahlung per Handy und Bluetooth-Kartenleser entgegen. Die wunderbare Welt der Technik…
Heute steht Kasteel de Haar auf dem Programm, was nur ca. ½ Stunde entfernt ist. Wir fahren über die „Baumroute” – etwas langsamer, dafür sehr malerisch. Just als wir ankommen, beginnt es zu regnen. Also das hätte jetzt nicht so dringend sein müssen.
Utrecht, Kasteel de Haar |
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Die Damen am Ticketschalter sind sich nicht ganz einig, wie das mit Öffnungszeiten und Tour denn heute abläuft. Ebenso wenig die Herren beim Schloss selber, aber egal, das Ticket öffnet bei Scannen die Pforten und wir treten ein.
Kasteel de Haar ist ein riesiges Märchenschloss der Dekadenz. Ein Herr Baron van Zuylen hat auf den Ruinen eines mittelalterlichen Schlosses seinen Traum von einem sehr eigenwilligen Architekten, Pierre Cuypers, verwirklichen lassen. Und als dem Herren das Geld ausging, hat er kurzerhand Helene de Rothschild geheiratet. Dann ging’s weiter .
Die Rothschildschen Eltern, Bankiers im fernen Paris, waren mit Helenens Partnerwahl gar nicht einverstanden und haben nach deren Ableben vor lauter Zorn das Elternhaus der nunmehrigen Baroness van Zylen van Nijevelt van de Haar dem französischen Staat hinterlassen. Nichts da mit Erben!
Helene war’s egal. Sie hatte genug Geld, welches sie mit ihrem Angetrauten fröhlich zur Renovierung von Kasteel de Haar verwendete.
Den großzügigen Landschaftsgarten, der das ebenso großzügige Märchenschloss umgibt, hat großteils Hendrik Copijn angelegt, der sich mit seinen Entwürfen sogar gegen den bauausführenden Pierre Cuypers durchsetzte.
Utrecht, Kasteel de Haar |
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Utrecht, Kasteel de Haar |
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Cuypers dürfte recht eigenwillig gewesen sein, da er keine maschinell gefertigten Dinge akzeptierte und alles handanfertigten ließ. Die Zähne hat er sich dann aber an der Baroness Helene ausgebissen, die weder für ihr Schlafgemach noch für das Badezimmer (Spa!!! Badezimmer ist pure Untertreibung) seinen Geschmack dulden wollte.
Von außen eine dicke, dunkle, gotische Holztür á la Cuypers, dahinter ein rosa Traum im Empire Stil. Helene hatte ihren Willen… nicht zuletzt, weil sie auch das Geld hatte.
Utrecht, Kasteel de Haar |
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Kasteel de Haar war als eines der luxuriösesten Schlösser in ganz Europa bekannt. Die Baroness liebt es, Gesellschaften zu geben und so war es schon bald Tradition, dass die Familie im September aufs Schloss kam und mit Gästen großartige Feste feierte. Enkel Thierry und seine Gattin Gabrielle setzten diese Tradition fort und so kam auch das Jet-Set zu den Parties auf das Schloss.
Natürlich sind aus dieser glanzvollen Zeit viele nette und witzige Geschichten über Berühmtheiten und Stars überliefert, die von gerne zum Besten gegeben werden. So zum Beispiel die Begebenheit mit Roger Moore, der beim Dinner unabsichtlich gleich den ganzen Truthahn auf der Gabel hatte und cool fragte „Anyone else?”.
Utrecht, Kasteel de Haar |
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Utrecht, Kasteel de Haar |
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Lustig auch die Aussage der Bediensteten die meinten, das schlimmste am Servieren sei aufzupassen, dass sich die Schnörkel der Silbertabletts nicht in den Haargebilden der weiblichen Gäste verfangen und die nach dem Toilettengang der Feiernden die Spülungen nachfüllen mussten.
Äußerst beeindruckend ist auch die riesige, tolle Küche mit einer französischen „Konstruktion” eines Ofens. Dass hier die üppigen Menüs zubereitet wurden, kann man sich sehr gut vorstellen.
Utrecht, Kasteel de Haar |
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Utrecht, Kasteel de Haar |
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Utrecht, Kasteel de Haar |
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Auch wir bekommen langsam Hunger und die zugänglichen Innenräume haben wir uns mittlerweile alle angesehen.
Unsere Mittagspause verbringen wir im ehemaligen Kutscherhaus bei Tomatensüppchen und zwei Sandwiches – alles frisch zubereitet und wohlschmeckend.
Satt und gestärkt wagen wir im Anschluss noch einen kleinen Ausflug in die Botanik, denn mittlerweile ist es glücklicherweise trocken und auch ein wenig sonnig.
Besonders gefällt uns natürlich der Rosengarten, der den passenden Rahmen zu diesem Märchenschloss bietet. Wunderschön!
Der traurige Hintergrund zum Rosengarten ist, dass er in Erinnerung an Helin, den ältesten Sohn von Etienne van Zuylen van Nijevelt angelegt wurde, der mit nur 24 Jahren bei einem Verkehrsunfall getötet wurde. Die über 1200 Rosenstöcke und 79 verschiedene Rosenarten wurden als Andenken an den jungen Mann gepflanzt.
Utrecht, Kasteel de Haar |
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Utrecht, Kasteel de Haar |
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Wir spazieren noch ein wenig entlang von Wasserläufen, vorbei an Volieren, Spiel- und Picknick-Plätzen, durch Kräutergärten und über Brücken, bis wir schließlich wieder am Parkplatz bei unserem Auto ankommen.
Zurück in Utrecht haben wir noch ein bisschen Zeit, bevor unsere Tour auf den Domtoren um 16:00 startet. Vorsorglich haben wir bereits Tickets gekauft, sodass wir dann nicht mehr anstehen müssen.
Wir nutzen also die Gelegenheit zu einem kleinen Einkaufsbummel. Fündig werden wir bei State of Art Menswear, einem Herrenmodengeschäft, das gut zu Alexanders Stil passt. Der Inhaber, ein Deutscher, ist auch sehr nett. Wir bekommen Kaffee und kommen ins Tratschen, bis wir uns fast verplaudert hätten. Schnell, schnell, auf zur Führung!
Utrecht, Domtoren |
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Model |
Utrecht, Domtoren |
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große Glocke |
Selbige schaffen wir pünktlich und sie stellt sich als sehr interessant heraus! 465 Stufen geht es rauf und auch wieder runter. Pausen gibt es dazwischen z.B. im Bischofszimmer und in der Türmer Stube mit Schenke.
Diese durfte nur über eine Leiter erklommen werden, da das dazwischen liegende Bischofszimmer nicht von gewöhnlichem Volk betreten werden durfte. Also musste, wer beim Türmer einen Schluck nehmen wollte, über eine Leiter dorthin klettern. Daher kommt auch der holländische Ausdruck „betrunken wie eine Leiter”.
14 Glocken gibt es am Domturm, die mit 25 Mann geschlagen werden. Jede der Glocken hat einen Namen, die größte heißt Salvator. Und natürlich gibt es ein Glockenspiel, das 2 Mal pro Woche bespielt wird. Ansonsten alle 15 Minuten, auch während der Nacht.
Stadtglöcknerin von Utrecht und Nijmegen ist Malgosia Fiebig, eine gebürtige Polin, die in Gdansk Musik studiert hat und dort nach 60 Jahren Stille das Glockenspiel von St. Katharina 1999 erstmalig wieder bespielt hat. Später ist sie dann in die Niederlande gezogen.
Malgosias Konzerte und vor allem die modernen Stücke, die sie auf den Glockenspielen interpretiert, sind international bekannt. Zum Gedenken an den im April 2018 im Oman tot aufgefundenen DJ Avicii gab Malgosia Fiebig sowohl in Utrecht als auch in Nijmegen am Glockenspiel ein Tribute seiner bekanntesten Hits zum Besten: Tribute to Avicii by carilloneur Malgosia Fiebig. Sieht man sie spielen merkt man, dass Glockenspiel einer durchaus kraftraubenden Sportart gleicht.
Utrecht, Domtoren |
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am Dach, Blick über die Stadt |
Utrecht, Domtoren |
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am Dach, bunter Anzug |
Utrecht, Domtoren |
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am Dach |
Oben an der Spitze des Turmes angekommen, sind wir zunächst über die kurze Verschnaufpause dankbar. Der Ausblick auf Utrecht ist schön, doch leider ist alles vergittert, sodass es sehr schwierig ist, Fotos zu machen.
Dafür beschäftigen wir uns etwas näher mit 2 jungen Männern in schrägen, bunten Anzügen, die uns schon die ganze Zeit aufgefallen sind. Einer trägt einen Pacman-Anzug, der andere einen mit Star Wars Comics und Aufschrift.
Wir erfahren, dass es sich hierbei nicht etwa um den etwas ausgefallenen Geschmack der jungen Herren handelt, sondern um eine Tradition der Universität von Utrecht. Alljährlich wird für die Erstsemester ein Filmchen mit den Silly Suits gedreht, dass den Frischlingen einen Eindruck der Stadt Utrecht vermitteln und sie willkommen heißen soll. Lustige Idee!
Utrecht, Domtoren |
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Utrecht, Domtoren |
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465 Stufen später sind wir wieder unten am Boden. Super war die Führung, hat uns gefallen!
Wir bringen unsere Kameras ins Apartment gleich ums Eck und bummeln noch ein wenig. Karin schaut, ob es bei Steppin‘ Out, einem Damenausstatter mit ähnlichem Stil wie der von Alexander heute Nachmittag, etwas gibt, das dringend mitgenommen werden will. Dem ist nicht so.
Schließlich melden sich unsere Mägen und wir landen im Lokal „Saffran”, einem türkischen Restaurant bei Oude Gracht. Das Lokal wurde uns von einem Kabir Bedi sehr ähnlich sehenden Kellner des Tapas-Restaurants empfohlen, in das wir eigentlich einkehren wollten. Leider ist dieses aber heute mit 170 Gästen bummvoll.
„Saffran” gefällt uns auch gut und es gibt hübsche Tische unten an der Gracht. Ganz reizend ist ein einzelner Herr, der uns seinen Tisch direkt am Wasser überlässt, als er unsere enttäuschten Gesichter ob des Platzes in der zweiten Reihe bemerkt. Er ist Australier und kommt geschäftlich alle 2 Monate nach Utrecht. Somit kennt der die erste Reihe und hat auch viel öfter Gelegenheit diese zu genießen als wir. Also bitte, wir sollen nur Platz nehmen. So freundlich, wir sind beinahe gerührt!
Utrecht, Domtoren |
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Utrecht, Domtoren |
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Nach gemischten Mezze, Bier und Plaudern mit dem australischen Herren, verlassen wir das „Saffran” satt und zufrieden.
Trotzdem müssen wir noch eine Portion kaufen, als wir im Anschluss am Atelier des Frites vorbeikommen. Die Gourmet-Fritten sind richtig berühmt und wie wir von einem der Inhaber erfahren, müssen sie „fucking perfect” sein. Wir entscheiden uns für Indo-Peanut-Frites to go.
Auf der Veranda genießen wir den Abendausklang mit den Pommes – gut aber viel zu viel sodass wir nur ½ Portion schaffen – und den Rest des Hugo.
Plötzlich drücken sich zwei Fellgesichter an die Verandascheiben. Die Katzen schauen neugierig, wer denn da heute so rumsitzt. Lachend und voll gehen wir nach diesem erlebnisreichen Tag ins weiche Bettchen.